Es wird anhand von Fakten und Zahlen nachgewiesen, dass - im
Gegensatz zur veröffentlichen Meinung – nicht demokratische Mehrheiten,
sondern die Minderheit der ökonomisch Mächtigen sowie ihre Dienstklasse
in Wirtschaft und Gesellschaft das Sagen haben. Damit wird erneut das
„Eherne Gesetz der Oligarchie“ von Robert Michels bestätigt, das er
bereits zwischen 1909 und 1911 begründet hatte.
Prof. Dr. Wolfgang Grunwald, Universität Lüneburg, Fak. II, Arbeits-
und Betriebspsychologie, D – 21332 Lüneburg, eMail:
grunwald@uni-lueneburg.de
„Es versteht sich von selbst, dass man nicht zugleich hohe Prinzipien
und hohe Profite haben kann.“ (E. v. Kuenheim; früherer langjähriger
BMW-Vorstandsvorsitzender)
„Ich habe den Eindruck, Globalisierung heißt für die Unternehmer, dass
die Managergehälter sich an den USA orientieren sollen und die Löhne an
China.“ (J. Peters, IG Metall-Chef)
Im Gefolge der allgegenwärtigen kapitalistischen Marktideologie haben
Globalisierung und Deregulierung der Märkte, Privatisierung öffentlicher
Dienstleistungen, Betriebsverlagerungen nach Osteuropa und Asien,
Steuerflucht sowie kurzfristige Profitmaximierung die Ökonomisierung
fast aller Lebensbereiche beschleunigt. Das künftig noch zunehmende
ökonomistische Denken in fast allen Lebensbereichen gleicht einer
„stillen Revolution“ zugunsten des Materiellen auf Kosten des Ideellen
mit allen damit einhergehenden schweren Verteilungskonflikten. Im Sog
dieser epochalen Veränderung geht bei den meisten Menschen das Gewohnte,
Vertraute, Berechenbare und Selbstverständliche verloren. Dies führt
vor allem bei den mehr als sieben Millionen „Modernisierungs“-Verlierern
und ihren Familien zu Orientierungslosigkeit, Verstörtheit, Angst,
Resignation, Apathie, psychosomatischen Krankheiten sowie zu tiefen
Enttäuschungen über die Funktionsfähigkeit der verfassungsrechtlich
gebotenen demokratischen, gerechten und sozialen Gesellschaftsordnung.
Nun ist seit jeher bekannt, dass die Politik nicht nur von der
Wirtschaftslage eines Landes maßgeblich bestimmt wird, sondern von
ökonomisch mächtigen Personen und Gruppen. Aber noch nie in der
Menschheitsgeschichte hatten Geld und vagabundierendes Finanzkapital
einen so beherrschenden – und zugleich verheerenden – Einfluss auf ganze
Staaten, Wirtschaftsräume, Branchen und Unternehmen wie gegenwärtig. So
war es nur folgerichtig, dass der ehemalige Vorstandsvorsitzende der
Deutschen Bank, Rolf E. Breuer, vor einigen Jahren in einem längeren
Aufsatz für „DIE ZEIT“ das Finanzkapital ungeniert als „fünfte Gewalt“
kürte (neben der dreifachen klassischen Gewaltenteilung: Exekutive,
Legislative,
Judikative; ferner die„vierte Gewalt“ der Massenmedien). „Geld kauft
politischen Einfluss, klug eingesetzt kauft es auch intellektuellen
Einfluss“ (zit. n. Bergmann 2004, S. 187). Mittlerweile tummeln sich in
Berlin ca. 4500 (!) gut bezahlte und auch korrumpierende Lobbyisten
sowie circa 1780 (!) Verbände mit direktem Einfluss auf Parlamente,
Ministerien und Politiker.
Die fatalen Auswirkungen des (international) vagabundierenden
Finanzkapitals im Verbund mit dem quasireligiösen Dogma des
Neoliberalismus, das die kurzfristige Gewinnmaximierung auf der Basis
des Eigennutzes als alternativloses „Naturgesetz“ zum Maßstab
unternehmerischen Handelns propagiert, führen zur Kernfrage, wer
eigentlich in Wirtschaft und Gesellschaft das Sagen hat – ungeachtet
aller öffentlichen Bekenntnisse von Wirtschaftsvertretern und
Politikern, den im Artikel 20 Abs. 1 (sowie Art. 28, Abs. 1) des
Grundgesetzes („Die Bundesrepublik Deutschland ist ein demokratischer
und sozialer Bundesstaat“) kodifizierten sozialen und demokratischen
Rechtsstaat zu respektieren.
Ziel dieses Artikels ist, hierzu Daten, Fakten sowie die
korrespondierende sozio-ökonomische Gesetzmäßigkeit der Herrschaft einer
Minderheit über die Mehrheit (Oligarchie) in der Wirtschaft zu
diskutieren.
Oligarchische Strukturen in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft
Ausgangspunkt ist die empirisch belegbare Tatsache, dass es in
Wirtschaft, Politik und Gesellschaft weniger demokratische als
oligarchische Machtstrukturen gibt. Mit anderen Worten: Wenige herrschen
– mehr verdeckt als offen – über Viele. Denn ökonomische Machteliten
(maximal 5%) und deren Dienstklasse (etwa 10-15%) geben in allen
wichtigen Entscheidungsgremien den Ton an. Nichts anderes meint das
berühmte Diktum von Karl Marx, wonach die herrschende Meinung die
Meinung der Herrschenden sei. Ähnlich Goethe in Faust I: Der Geist der
Zeiten sei „im Grunde der Herrn eigner Geist, in dem die Zeiten sich
bespiegeln.“
Die Legitimation hierfür gründet auf der Eigentumsgarantie des
Grundgesetzes in Art. 14 („Das Eigentum und das Erbrecht werden
gewährleistet“), ohne – Ausnahmen bestätigen die Regel – die
Sozialpflichtigkeit des Eigentums (Artikel 14 Abs. 2 GG: „Eigentum
verpflichtet. Sein Gebrauch soll zugleich dem Wohle der Allgemeinheit
dienen“) zu beachten. Die Missachtung der Sozialpflichtigkeit von
Eigentum durch rücksichtslose, kurzfristige Gewinnmaximierung
(einseitige Shareholder-Orientierung) auf Kosten der Stakeholder ist ein
eklatanter Verfassungsbruch, der öffentlich zu ächten und juristisch zu
ahnden wäre! Aber angesichts der ökonomisch determinierten faktischen
Machtverhältnisse in Politik und Gesellschaft bleibt diese Forderung
illusionär. Sie gleicht der Aufforderung, einer Katze das Bellen
beizubringen …
Die Bevölkerung hat ein untrügliches Gespür für ökonomische und
soziale Fehlentwicklungen: Gemäß einer Umfrage im Jahre 2004 des
Instituts für Demoskopie in Allensbach forderten 45% der Befragten die
Sozialpflichtigkeit des Eigentums ein (1998 waren es 34%). Nur 14%
glaubten, dass sich die Wohlhabenden für das Allgemeinwohl in der
Pflicht fühlten; 66% glaubten das nicht (Bartels 2005, 177).
So belegt der von der Bundesregierung vorgelegte 2. Armuts- und
Reichtumsbericht „Lebenslagen in Deutschland 2004“, dass – vorsichtig
berechnet – 50% der Haushalte nur über ca. 4% des Nettovermögens
verfügen, während auf die vermögendsten 10% der Haushalte circa 47% (!)
entfallen. Von 1960–2000 sank in Westdeutschland der Anteil der Steuern
auf Gewinn- und Vermögenseinkommen von 20% auf 6,7%. Im selben Zeitraum
stieg der Anteil der Steuern auf Löhne und Gehälter von 6,3% auf 19,4%.
Während die Reallöhne in West-Europa zwischen 1995 und 2004 um teilweise
mehr als 25% stiegen, gingen die Realeinkommen in Deutschland um 0,9%
zurück. „Steuergerechtigkeit gibt es schon lange nicht mehr. Reformen
benachteiligen meist die Kleinen und bevorzugen die Großen“
(Weiss/Schmiederer 2006, 19). Im Jahre 2005 gab es in Deutschland sieben
Millionen Sozialhilfe-Empfänger (ALG II). Fast jeder 13.
Privathaushalt, das sind 3,1 Millionen Haushalte, ist überschuldet (vgl.
„Schuldenreport 2006“ der Verbraucher- und Wohlfahrtsverbände; auf der
Datenbasis von 2002). 16% der
Bevölkerung sind arm (Armutsdefinition = weniger als 60% des
durchschnittlichen pro Kopf-Verdienstes); und jedes sechste bis siebte
Kind (ca. 2,5 Millionen) lebt von Sozialhilfe – mit steigender Tendenz.
In der reichen Stadt Hamburg leben 23 % (= 51985 Kinder) der unter
15jährigen von Hartz IV (vgl. Hbg. Abendblatt 5.08.06). Demgegenüber
sind nach konservativen Schätzungen des Bundesfinanzministeriums bis
dato mindestens 400 Mrd. Euro in Deutschland erwirtschaftetes Vermögen
(Geld und Kapital) am Fiskus vorbei ins Ausland geschleust worden.
Desaströs für Arbeitnehmer sind vor allem die Aktivitäten vieler
Investorengruppen (insbes. Private Equity Fonds und Hedge Fonds = sog.
Heuschrecken), die – häufig verdeckt aus Steueroasen agierend – auch
profitable Unternehmen ausschlachten, um kurzfristig Jahresrenditen von
20-30% zu erzielen (ein Beispiel für viele: die spektakuläre
Zerschlagung der erfolgreichen Armaturenfirma Friedrich Grohe).
Kommunale Wohnungskomplexe, staatliche Krankenhäuser sowie Großkonzerne
werden zur spekulativen Handelsware (z. B. Mannesmann, Aventis,
Chrysler, Time Warner, etc.). „Aktien, Schweinebäuche oder Unternehmen.
It’s all the same“ (DIE ZEIT, 09.03.06, S. 24). Das Eigenkapital der
Finanzinvestoren wird für 2006 auf ca. 270 Mrd. Dollar geschätzt. Mit
Fremdkapital verfügen sie über eine Kapitalmacht von ca. 1,5 Billionen
Dollar, sodass auch Großkonzerne von feindlichen Übernahmen bedroht
sind. Diese Entwicklung ist mittlerweile eine reale Bedrohung der
Weltwirtschaft (Storn 2006, 26).
Angesichts dieser Fakten wähnt man sich in einer feudalistischen
Bananenrepublik; mit einer gespaltenen Gesellschaft in reich und arm
sowie einer erodierenden Mittelschicht. Die ökonomische Ungleichheit bei
der Einkommens- und Vermögensverteilung wird angesichts der realen
Macht- und Einflussverhältnisse in Politik und Wirtschaft zugunsten der
Wirtschaftselite weiter zunehmen. Beweis hierfür ist eine seit Jahren
praktizierte Steuerpolitik, die Großunternehmen gezielt entlastet,
hingegen lohnabhängige Arbeitnehmer nachhaltig belastet (zwei Drittel
des gesamten Steueraufkommens speist sich mittlerweile aus der
Lohnsteuer!). So hat DaimlerChrysler im Jahre 2005/06 in Deutschland –
trotz 149
Mrd. Euro Umsatz und eines Reingewinnes von 2,8 Mrd. Euro – aufgrund
von Verlustabschreibungen keine Steuern zahlen müssen (Hickel 2006).
Angesichts dieser Daten zeigt sich die Wiederkehr des ewig Gleichen:
Schon vor 1600 Jahren erkannte Augustinus, dass der Wohlstand der
Reichen sich aus dem Mangel der Armen speist. Die damit einhergehende
Zerstörung des sozialen Friedens in Deutschland wird von der
Wirtschaftselite und ihrer Dienstklasse in Politik, Medien,
Beratungsunternehmen, Wirtschaftswissenschaften, konservativen
Stiftungen und Vereinigungen, etc. ignoriert, verdrängt oder gar als
unabänderlicher Preis einer Marktwirtschaft bagatellisiert. Kritiker der
stetig zunehmenden Verteilungs-Ungerechtigkeit von unten nach oben
werden in aller Regel von den zahllosen Protagonisten und Nutznießern
der kapitalistischen Marktideologie eilfertig mit der „Sozialneid-Keule“
mundtot zu machen versucht und/oder nach dem Motto: „If you can’t beat
them, join them“ gesellschaftlich „neutralisiert“ (vgl. www.
NachDenkSeiten.de).
Aus der überdehnten Eigentumsgarantie des Grundgesetzes Art. 14 („Das
Eigentum und das Erbrecht werden gewährleistet“) wird das sog.
Direktionsrecht abgeleitet, aufgrund dessen Verfügungs- und
Entscheidungsrechte an beliebige Personen delegiert werden können. Nicht
selten handelt es sich hierbei um „gesetzliches Unrecht„ (Gustav
Radbruch), wonach Rechtsverhältnisse zwar legal, aber illegitim sein
können, weil sie gegen Treu und Glauben verstoßen oder gar sittenwidrig
sind. Beispiele hierfür sind die vielen „legalen“ Verträge zwischen
Unternehmen und ihren Managern zu Lasten Dritter: exorbitante Gehälter,
Pensionen, Abfindungen und Prämien, die häufig wenig oder gar nicht
leistungsbezogen sind. Dabei stellt sich der Straftatbestand der Untreue
(§ 266 StGB) schnell ein. Denn letztlich müssen diese Zahlungen
vornehmlich von den schlecht bezahlten Arbeitnehmern der unteren und
mittleren Hierarchieebenen; aber auch von den Kunden, Lieferanten und
Kleinaktionären aufgebracht werden.
Über konkrete Fälle von Maßlosigkeit, Missbrauch, Untreue, Betrug und
Korruption berichten überregionale Zeitungen fast täglich. Jedes
zweite deutsche Unternehmen ist in den vergangenen zwei Jahren Opfer
von Wirtschaftskriminalität geworden. Die amtlich registrierten Schäden
beliefen sich im Jahr 2004 auf mindestens 5,6 Mrd. Euro (gegenüber „nur“
20 Mio. Euro aus Banküberfällen!). Nach Erkenntnissen des
Bundeskriminalamtes werden rund ein Drittel aller Wirtschaftsdelikte von
Mitgliedern des Topmanagements begangen
(www.bka.de/pks/pks2004/index2.html). In seinem neuen Buch über mafiose
Netzwerke in Deutschland schreibt Jürgen Roth (2006, 10): „Die Rede ist
vom Deutschland-Clan. Ihn verbindet keine schriftliche Vereinbarung, es
gibt keine beschwörenden Formeln, die mit Blut besiegelt werden wie bei
der italienischen Cosa Nostra. Besiegelt werden die Bündnisse im Geiste,
nonverbal. Den Deutschland-Clan vereint vielmehr das neoliberale
Gedankenkonstrukt, in dem Gemeinsinn durch puren Egoismus und Moral
durch die Anhäufung von möglichst viel Kapital, durch blanke Geldgier
ersetzt wurden.“
Wer sind die ökonomischen Machteliten?
„Eliten“ (lat. eligere = auswählen) sind Inhaber zentraler Positionen
in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft, die sich durch Auslese,
Konkurrenz oder Kooptation herausgebildet haben, was ihre hervorgehobene
Stellung rechtfertigt und/oder begründet. Im Folgenden wird die
ökonomische Machtelite (sog. Wirtschaftselite) betrachtet, die nicht so
sehr mit ihrem kulturellen und sozialen Kapital, sondern mit eigenem und
häufig sogar geliehenem ökonomischem Kapital (P. Bourdieu) maßgeblichen
Einfluss ausübt. Dementsprechend bedienen die meisten Angehörigen der
Funktions- und Positionseliten bzw. der oberen Dienstklasse (= Inhaber
geschätzter und hoch dotierter Führungspositionen) – nicht selten in
vorauseilendem Gehorsam – die Interessen der ökonomisch Mächtigen.
Nirgendwo ist dies so sichtbar wie bei Politikern, die sich den
Kapitaleignern und/oder ihrer Dienstklasse als „Berater“ andienen. Ein
beschämendes Beispiel für den Niedergang (sozial) demokratischer Ideale
liefert der einstige Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD), der sich –
kaum abgewählt – von dem russischen Gasmonopolisten „Gasprom“ als
Aufsichtsratsvorsitzender für ein
deutsch-russisches Konsortium (NEGP, Ostsee-Pipeline) für eine
„Aufwandsentschädigung“ von 250.000,- Euro p.a. einkaufen ließ. Ein
halbes Jahr später wurde er von der Investmentbank Rothschild für deren
Europäischen Beirat angeheuert, usw. Dort soll er seine Expertise
einbringen…
„Ob es uns nun gefällt oder nicht: über das Wohl und Wehe der
deutschen Wirtschaft und damit auch über die Lebensbedingungen der
deutschen Bevölkerung wird nicht von gewählten Politikern entschieden,
sondern von ein paar Managern, Bankern, Unternehmensberatern und
Juristen, die in einem straffen und engmaschigen Netzwerk organisiert
sind. Wer Zutritt zu diesem Kreis der Wirtschaftselite erhält und wer
draußen bleiben muss, entscheiden die Mitglieder selbst nach ihren
eigenen Regeln“ (Opoczynski 2005, 48).
Im Gegensatz zu den Bereichen Kultur, Politik, Gewerkschaften,
öffentliche Verwaltung, Wissenschaft, Justiz und Massenmedien mit einer
gewissen Öffnung zu Elitepositionen für soziale „Aufsteiger“, ist die
statushöhere soziale Herkunft in den Führungsetagen der deutschen
Wirtschaft entscheidend. Ihr Rekrutierungsanteil aus der Oberschicht
beträgt 40% (bei 6% Anteil an der Gesamtbevölkerung). Beim Weg in die
Chefetagen der 400 führenden Großkonzerne sind die Söhne des gehobenen
Bürgertums doppelt, die des Großbürgertums sogar mehr als dreimal so
erfolgreich wie jene Arbeiterkinder aus der breiten Bevölkerung. Der
Nachwuchs von leitenden Angestellten schafft den Sprung nach oben sogar
zehnmal häufiger.
Mindestens vier zentrale Persönlichkeitsmerkmale indizieren den „klassenspezifischen Habitus“ (P. Bourdieu):
1) Intimkenntnis und Beachtung der ungeschriebenen Dress- und Benimm- Codes
2) breite Allgemeinbildung,
3) unternehmerisches Denken und optimistische Lebenseinstellung,
4) persönliche Souveränität im Auftreten.
Hinzuzufügen wäre noch die Fähigkeit zur Verschwiegenheit außerhalb der inneren Zirkel („esprit des corps“).
Die Karriere von Nachwuchskräften der Wirtschaftselite zeigt folgendes Grundmuster:
1) Ernennung als „high potential“,
2) Übertragung von beruflichen Herausforderungen sowie
3) Förderung durch einflussreiche Mentoren und/oder „Seilschaften“ (z. B. Rotary/Lions-Clubs, schlagende Verbindungen, private Hochschulen, konservative Stiftungen, elitäre Sportclubs, Parteibuch-Klüngel, etc.).
Die wichtigsten Antriebskräfte für den Aufstieg – so belegen
verschiedene Untersuchungen - sind letztlich Geld und Macht; folglich
ist Ämterhäufung üblich. Das Gesetz, wonach maximal zehn
Aufsichtsratsposten von einer Einzelperson besetzt werden dürfen, wird
seit Jahrzehnten durch Umbenennung ausgehebelt: Beraterkreis, Beirat,
Verwaltungsrat, etc. So war der Vorstandsvorsitzende der Dresdner Bank,
Wolfgang Röller, mit 78 der empirisch ermittelten 308 Multifunktionären
aus 700 größeren Unternehmen verbunden. Ähnliche Netzwerke gibt es auch
beim ehemaligen Vorstandsvorsitzenden der Deutschen Bank Hilmar Kopper
sowie bei seinen Nachfolgern. Allein bei 16 der 30 Dax-Unternehmen
wurden die früheren Vorstandsvorsitzenden zu Aufsichtsratsvorsitzenden,
und in den Vorständen der Dax-Unternehmen saßen 2002 elf ehemalige
McKinsey-Berater. Die totgesagte „Deutschland AG“ ist immer noch sehr
lebendig: Gemäß einer Studie der Deutschen Schutzvereinigung für
Wertpapierbesitzer (DSW) vom August 2006 sitzen allein die drei
Führenden, M. Schneider (Aufsichtsratschef Bayer u. Linde), G. Cromme
(Thyssen-Krupp) und U. Hartmann (E.on) in den Kontrollgremien von 14 der
30 DAX-Konzerne (s. Hbg. Abendblatt 19.Aug.06, S. 28).
Die Statusreproduktion von (Wirtschafts-)Eliten überdauert in der
Regel mehrere Generationen worauf Vilfredo Pareto bereits 1921
hingewiesen hat (vgl. Röhrich 1991, 61ff.):
„Durch die Elitenzirkulation unterliegt die herrschende Klasse einer
immerwährenden Transformation, die wie ein Strom dahingleitet, heute
anders als gestern. Von Zeit zu Zeit beobachtet man plötzliche und
heftige
Umwälzungen ähnlich den Überschwemmungen eines Stromes, und danach
beginnt die neue herrschende Klasse sich ihrerseits wieder zu wandeln:
Der Strom, in sein Bett zurückgekehrt, fließt von neuem gleichmäßig
dahin.“
Ein drastisches Beispiel für die durch „Seilschaften“ und Kooptation
(die Positionsinhaber bestimmen ihre Nachfolger) gesicherte Kontinuität
von Macht- und Funktionseliten ist die „Nazi-Elite“ im sog. Dritten
Reich, die – trotz unsäglicher Verbrechen gegen die Menschlichkeit –
noch Jahrzehnte in der demokratisch verfassten Bundesrepublik
einflussreiche Positionen in Wirtschaft, Politik, Wissenschaft, Justiz,
Medizin, etc. innehatte (vgl. Frei 1997 u. 2003).
Besonders in den letzten zehn Jahren hat sich bei der breiten
Bevölkerung eine für die Stabilität des demokratischen Staatswesens
bedrohliche Vertrauens- und Akzeptanzkrise gegenüber der herrschenden
Klasse entwickelt. In keinem Land Westeuropas ist das Misstrauen der
Bevölkerung gegenüber der politischen und wirtschaftlichen Elite so groß
wie in Deutschland.
Eine repräsentative Umfrage, die das Emnid-Institut im Auftrage des
World Economic Forum (WEF) auch für Deutschland durchgeführt hat,
ermittelte bei mehr als 50 000 Personen, dass 70% die Konzernchefs als
unehrlich, 80% ihre Macht als zu groß und 70% ihr Verhalten als
unethisch einschätzen. Politiker werden sogar von 76% der Befragten als
unehrlich wahrgenommen. Im Vergleich dazu die Durchschnittswerte von
Westeuropa: 40% der Befragten empfinden Konzernchefs und 46% Politiker
als unehrlich (vgl. Die Welt, 19.11.2004, S. 11).
Soziale Schichten in Deutschland
Das Schicht-Modell ist geeignet, Macht und Einfluss bestimmter
Personengruppen in einer Gesellschaft zu identifizieren. Unter „soziale
Schicht“ werden gesellschaftliche Gruppen verstanden, die aufgrund von
Vermögen, Macht, Bildung, Beruf, Einkommen oder Prestige als
gesellschaftliche Pyramide beschrieben werden können, nämlich: Ober-,
Mittel- und Unterschicht. Jede einzelne Schicht ist noch dreifach
unterteilbar in eine obere-, mittlere- und untere
Kategorie. Überdies lässt sich noch eine spezielle Kategorie von
weniger als 1% der Bevölkerung im Dunstkreis der oberen Oberschicht
ausmachen: „Die Quasi-Unsichtbaren“ oder „Quasi-Unberührbaren“
(Gelddynastien, Erben großer Vermögen, Finanzinvestoren, etc.).
In keinem anderen westlichen Industrieland ist Bildung – und damit
gesellschaftlicher Aufstieg – so sehr von der sozialen Herkunft abhängig
wie in Deutschland (vgl. PISA-Schulstudie). Vor allem das tradierte
dreigliedrige Schulsystem: Hauptschule = „Bauer“, Realschule = „Bürger“
und Gymnasium = „Edelmann“ sichert frühzeitig und nachhaltig den
Einfluss der herrschenden Klasse, d.h. der ökonomischen Machteliten, auf
Schlüsselpositionen in Wirtschaft, Politik und Gesellschaft.
Wie empirische Forschungen zeigen, besteht das sog. obere Milieu aus
maximal 20% der Bevölkerung: 5-10% aufgrund von Eigentum sowie 10-15%
aufgrund ihrer akademischen Ausbildung (dienstleistende Funktionseliten =
Dienstklasse). Letztere rekrutieren sich a) aus dem gehobenen Bürgertum
sowie b) aus sozialen Aufsteigern. Die Größenverhältnisse zwischen den
oberen, mittleren und unteren Milieus liegen seit Jahrzehnten
unverändert bei etwa: 20% : 70% : 10% (vgl. Vester 2003, 237ff.).
Das Eherne Gesetz der Oligarchie
Bereits 1884 formulierte der italienische Soziologe Gaetano Mosca in
seiner Theorie der herrschenden Klasse eine Gesetzmäßigkeit, die noch
heute unverändert gilt:
„In allen Gesellschaften, von den primitivsten im Aufgang der
Zivilisation bis zu den fortgeschrittensten und mächtigsten, gibt es
zwei Klassen, eine, die herrscht und eine, die beherrscht wird. Die
erste ist immer die weniger zahlreiche, sie versieht alle politischen
Funktionen, monopolisiert die Macht und genießt deren Vorteile, während
die zweite, zahlreichere Klasse von der ersten befehligt und geleitet
wird. Diese Leitung ist mehr oder weniger gesetzlich, mehr oder weniger
willkürlich oder gewaltsam und dient dazu,
den Herrschenden den Lebensunterhalt und die Mittel der Staatsführung
zu liefern“ (zit. n. Wasner 2004, 36f.).
Robert Michels hat in seinem klassischen Werk „Zur Soziologie des
Parteiwesens in der modernen Demokratie“ (1911/1925) nach eingehender
Analyse von Gewerkschaften und sozialdemokratischen Parteien in Europa
die Erkenntnis von Mosca vertieft, dass jeder Organisation eine Tendenz
zur Oligarchie (griech. oligos = wenig; archein = führen) innewohnt, die
demokratischen Prinzipien zuwider läuft.
Dieses allgegenwärtige Phänomen wurde von Michels als „Ehernes Gesetz
der Oligarchie“ bezeichnet. Es besagt, dass a) sozial-psychologische
Faktoren bei den Führenden und Geführten sowie b) bürokratische
Organisationsformen die Herrschaft Weniger über Viele bewirken, und zwar
als zeit- und kulturübergreifende Gesetzmäßigkeit.
Denn eine Minderheit löst stets nur eine andere Minderheit ab, und ad
infinitum (Kreislauf der Eliten). „Alles ändert sich und bleibt doch,
wie es ist“. Denn bei genauer Betrachtung der Machtstrukturen in
Unternehmen finden sich immer nur 5%, maximal 10%, der
Organisationsmitglieder (Eigentümer und deren Verwalter, leitende
Führungskräfte), die das Sagen haben und folglich Positionen, Einkommen
und Gewinn nach eigenen Regeln primär zu ihrem persönlichen Nutzen
verteilen.
Für oligarchische Tendenzen gibt es nach Michels drei Ursachenbündel:
a) die menschliche Natur (Egoismus),
b) typische Verhaltensmuster der herrschenden Klasse (Kooptation, Absicherung ihrer Herrschaft) und
c) hierarchisch-bürokratische Strukturen und Prozesse in Organisationen
Darauf basierend lauten Michels sechs Kernaussagen:
1) Ohne Organisation ist Demokratie nicht denkbar;
2) wer Organisation sagt, sagt Tendenz zur Oligarchie;
3) mit zunehmender Organisation schwindet Demokratie;
4) mit zunehmender Organisation steigt die Macht der Führenden aufgrund von Faktoren wie: Tendenz zur Machtabsicherung, indirekte Wahl, Allmacht von Gremien, etc;
5) Macht ist stets konservativ: „Die Revolutionäre der Gegenwart sind die Reaktionäre der Zukunft“ (Michels) und
6) mit der Entstehung einer oligarchischen Bürokratie wird aus einem ursprünglichen Mittel zum Zweck ein Selbstzweck.
Kurz: Wenige Personen(-gruppen) an der Spitze einer
Unternehmens-hierarchie bestimmen weitgehend unkontrolliert, was die
Mehrheit zu tun oder zu unterlassen hat.
Folgerungen
Offensichtlich handelt es sich bei den oligarchischen
Herrschafts-strukturen in Wirtschaft und Gesellschaft um eine zeitlose,
transkulturelle, sachlogische und wohl auch anthropologische Konstante.
In allen komplexen, hoch arbeitsteiligen Gesellschaften, Organisationen
und Gruppen braucht es die von wenigen Personen und/oder Gruppen
angeleitete Steuerung und Koordination der Einzel-/Gruppenleistungen auf
übergeordnete Ziele hin, damit Organisationen ihren Zweck erfüllen
können. Neben diesen sach-rationalen Gründen steht vor allem in
kapitalistischen Gesellschaften das Streben vieler Menschen nach
(Arbeitsplatz-)Sicherheit; insbesondere nach Eigentum/Kapitel und
folglich Macht/Einfluss (Werbespruch einer Sparkasse: „Hast Du was, bist
Du was.“).
Demokratie- und Elitenforschung, betriebswirtschaftliche
Organi-sationsforschung sowie sozialpsychologische Führungs- und
Gruppenforschung haben in den letzten 70 Jahren theoretisch und
empirisch nachgewiesen, dass es keine dauerhaft hierarchiefreien
Organisationen oder Gruppen gibt und je geben wird. Die Herrschaft einer
Minderheit über die Mehrheit in sozio-technischen Systemen ist folglich
unumgänglich und allgegenwärtig. Allenfalls geht es um die Bedingungen
der Möglichkeit eines gewaltlosen Elitenwechsels im Sinne der o.g.
Elitenzirkulation, d.h. immer nur um die Wahl zwischen den
unvermeidbaren Übeln, konkurrierende Eliten mit mehr oder weniger
subtilen oligarchischen Herrschaftsmechanismen zu ertragen.
„Man wäre versucht, es eine Tragikomödie zu nennen: die Massen begnügen sich damit, unter Aufbringung aller Kräfte ihre Herren zu wechseln“ (Michels 1987, 367; orig. 1911). Der Volksmund präzisiert in drastischer Weise dieses Problem aus langer und bitterer Erfahrung: „Die Schweine wechseln; die Tröge bleiben“.
Das Grundproblem bleibt wohl unlösbar, ob und wie sich die
oligarchische Herrschaft der ökonomischen Machteliten kontrollieren oder
gar verhindern lässt. Bislang wird in staatlich-demokratischen Systemen
versucht, eine Machtbalance durch formaljuristisch geregelte
Elitenkonkurrenz zu gewährleisten. Besonders in der Wirtschaft
funktioniert dieses Prinzip jedoch nicht oder nur rudimentär, und zwar
aufgrund der eigentumslegalisierten Machtverhältnisse einer herrschenden
Minderheit (max. 5–10%) mit ihren nachhaltigen Absicherungsstrategien
durch Kooptation sowie der Beschäftigung eines Heers von
aufstiegsorientierten Dienstwilligen.
Immer wird es eine Elitenherrschaft der ökonomisch Mächtigen geben,
die – je nach Zeitgeist und Machtkonstellation – mal mehr, mal weniger
Gleichheit, Gerechtigkeit und Mitbestimmung zulassen (müssen). Vor allem
das seit etwa 15 Jahren fast quasireligiös zelebrierte, den Menschen zu
einer Ware entwürdigende kapitalistische Denken und Handeln in
Wirtschaft und Gesellschaft untergräbt den sozialen Frieden und somit
die Balance zwischen Gleichheit, Freiheit, Solidarität und
Gerechtigkeit. Mit anderen Worten: kurzfristige profitorientierte
Individual- und Gruppeninteressen zerstören das Gemeinwohl. Jeder
ist/wird sich selbst der Nächste…
Wo bleibt bei dieser Erkenntnis ein konstruktiver Ausblick?
Mindestens vier Maßnahmen gegen die gröbsten Auswüchse
kapitalistisch-oligarchischer Herrschaft in Wirtschaft und Gesellschaft
sind unerlässlich, um die Akzeptanz und Stabilität eines
marktwirtschaftlich orientierten, demokratisch verfassten Staatswesens
zu gewährleisten:
1) Durchsetzung der Sozialpflichtigkeit des Eigentums gemäß Artikel 14, Absatz 2 des Grundgesetzes.
2) Eine grundlegende Steuerreform zugunsten der lohnabhängigen Arbeitnehmer.
3) Beteiligung der Arbeitnehmer an den von ihnen erwirtschafteten
Gewinnen, damit der systematisch vorenthaltene Lohn abhängig
Beschäftigter endlich zur Auszahlung kommt.
4) Drastische Erhöhung der Erbschafts-, Vermögens- und
Schenkungssteuer, weil große Kapitaleinkommen das Leistungsprinzip ad
absurdum führen und somit die ökonomische Ungleichheit unumkehrbar
vertieft.
Freilich müssten diese Reformen von den ökonomisch Mächtigen und ihren Funktionseliten akzeptiert und eingeleitet werden …
1868 schrieb Werner von Siemens an seinen Bruder:
„Mir würde das verdiente Geld wie glühendes Eisen in der Hand brennen,
wenn ich treuen Gehilfen nicht den erwarteten Anteil gäbe“.
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Storn, A. (2006): In der Hand der Jongleure, in: DIE ZEIT, Nr. 36, 31.08.2006, S. 26-27
Vester, M. (2003): Die Krise der politischen Repräsentation:
Spannungsfelder und Brüche zwischen politischen Eliten, oberen Milieus
und Volksmilieus. In: Hradil, S., Imbusch, R. (Hg.): Oberschichten –
Eliten – Herrschende Klassen (Opladen 2003), S. 237-270
Vester, M.: Soziale Milieus und Gesellschaftspolitik, in: Aus Politik und Zeitgeschichte, 44-45/2006, S. 10-17
Wasner, B. (2004): Eliten in Europa, Wiesbaden
Wehler, H.-U. (2006): Die verschämte Klassengesellschaft, in: DIE ZEIT, Nr. 48, 23.11.2006, S. 14
Weiss, H., Schmiederer, E. (2006): Asoziale Marktwirtschaft (5. Aufl.), Köln
Internetquellen
http://www.wirtschaftsverbrechen.de/ (05.09.2006)
http://www.fes.de/inhalt/Dokumente/061016_Gesellschaft_im_Reformprozess.pdf
(25.10.2006) (Erhebung „Gesellschaft im Reformprozess“, durchgeführt im
19
Auftrag der Friedrich-Ebert-Stiftung; die daraus resultierende Studie wird zum Jahresende 2006 veröffentlicht)
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Geld kauft Einfluss:
Das Eherne Gesetz der Oligarchie
Wolfgang Grunwald